Typologie des Hasses 2.0
Nach der ersten groben Unterteilung von Angreifer_innen zwischen Hatern und Trollen möchte ich hier eine weitergehende Typologie des Hasses vorschlagen. Dabei werde ich die Unterschiede der jeweiligen Angriffe deutlich machen und durch ein Schema strukturieren und visualisieren.
Hier geht es direkt nach unten zur Typologie. Für methodologisch Interessierte gibt es folgend die wissenschafltliche Grundlage der Typologieentwicklung:
Methodische Grundlage der Typologieentwicklung nach Kelle und Kluge
Obwohl die Wichtigkeit von Typologien in der Empirie häufig benannt wird, findet sich wenig Literatur zu deren konkreter Entwicklung. In vielen Fällen wird nicht beschrieben, wie die Modelle, mit denen gearbeitet wird, entstanden sind, sondern sie werden einfach als gegeben hingenommen. Um diese Lücke zu füllen, hat Susann Kluge das Stufenmodell empirisch begründeter Typenbildung bereits 1999 in ihrer Dissertation[1] herausgearbeitet und vorgestellt. Später entwickelte sie das Modell mit Udo Kluge weiter, wobei das Grundkonzept der vier Stufen gleich geblieben ist.
Unter einer Typologie verstehen sie „das Ergebnis eines Gruppierungsprozesses, bei dem ein Objektbereich anhand eines oder mehrerer Merkmale in Gruppen bzw. Typen eingeteilt wird“.[2] Nach Kelle und Kluge spielen Verfahren des Fallvergleichs, der Fallkontrastierung und der Typenbildung überall in der qualitativen Sozialforschung eine bedeutsame Rolle, unabhängig davon, ob das Ziel eher in der Beschreibung und dem Verstehen sozialer Prozesse in begrenzten Handlungsfeldern oder in der Formulierung allgemein gültiger Theorien gesehen wird. Typenbildende Verfahren seien in allen Natur- und Geisteswissenschaften unverzichtbar, wenn das Ziel empirischer Forschung nicht in einem Test von vorab formulierten Aussagen bestehe, sondern in der Entdeckung, Beschreibung und Systematisierung von Beobachtungen im Feld.[3]
Das sei der kleinste methodologische Nenner qualitativer Ansätze. Im Gegensatz zu den hypothesenprüfenden Verfahren experimenteller und quantitativer sozialwissenschaftlicher Forschung sei es stets ein unverzichtbarer Bestandteil qualitativer Datenauswertungen, systematisch Strukturen in dem im Feld gesammelten, in der Regel nur wenig vorstrukturierten Material zu identifizieren. Typenbildenden Verfahren kämen sowohl deskriptive als auch hypothesengenerierende Funktionen zu. Sie würden bei der Beschreibung sozialer Realität durch Strukturierung und Informationsreduktion helfen. Die Einteilung eines Gegenstandbereichs in wenige Gruppen oder Typen erhöhe dessen Übersichtlichkeit, wobei sowohl die Breite und Vielfalt des Bereichs dargestellt als auch charakteristische Züge, eben das „Typische“, von Teilbereichen hervorgehoben werden solle.[4] Durch die Bildung von Typen und Typologien könne eine komplexe soziale Realität auf eine beschränkte Anzahl von Gruppen bzw. Begriffen reduziert werden, um sie greifbar und damit begreifbar zu machen. Kelle und Kluge stellen heraus, dass die (vorrangig deskriptive) Gruppierung seiner Elemente einen Untersuchungsbereich überschaubarer macht und komplexe Zusammenhänge verständlich und darstellbar werden.
Diese inhaltlichen Zusammenhänge könnten dann mit Hilfe allgemeiner Hypothesen erklärt werden, so dass Typologien auch als Heuristiken der Theoriebildung dienten: Indem sie die zentralen Ähnlichkeiten und Unterschiede im Datenmaterial deutlich machen, regten sie die Formulierung von Hypothesen über allgemeine kausale Beziehungen und Sinnzusammenhänge an. Typologien könnten also nicht nur die Strukturierung eines Untersuchungsbereichs ermöglichen, sondern auch die Generierung von Hypothesen und die (Weiter-)Entwicklung von Theorien in vielfältiger Weise unterstützen.[5]
Für die praktische Umsetzung der Erstellung von Typologien schlagen Kelle und Kluge folgendes vier-stufiges Vorgehen vor:
Die einzelnen Stufen bauten zwar logisch aufeinander auf – beispielsweise könnten die Fälle den einzelnen Merkmalskombinationen erst zugeordnet werden, wenn zuvor der Merkmalsraum festgelegt wurde – die Stufen könnten jedoch auch mehrfach durchlaufen werden, was beispielsweise auf mehrdimensionale Typologien zutreffe.
Stufe 1: Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen
Die Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen sei der zentrale Schritt bei der Bildung von Typologien. Diese Vergleichsdimensionen legten fest, was im Fokus der Untersuchung stehen soll, was beleuchtet wird. Ein Fall könne durch eine (unendliche) Vielzahl von Perspektiven verglichen werden, verschiedene Perspektiven führten dabei jeweils zu unterschiedlichen Gruppierungen und Typologien.[6] Zentraler Angelpunkt für die Erstellung von Typologien seien demnach die Kategorien, anhand derer der Gegenstandsbereich untersucht werden soll. Vergleichsdimensionen bzw. Kategorien ermöglichten überhaupt erst eine Kontrastierung bzw. einen Vergleich. Eine Formulierung von zentralen Konzepten vor der empirischen Datenerhebung widerspräche laut Kelle und Kluge jedoch, zumindest vordergründig, der explorativen und heuristischen Funktion qualitativer Methoden – deren Stärke bestehe für viele Sozialforscher_innen gerade darin, dass Relevanzsetzungen der Befragten nicht von vorgängigen Forschungshypothesen überblendet werden würden. Diese Betonung der heuristischen Funktion qualitativer Forschung habe zu einem „induktivistischen Selbstmissverständnis“[7] der qualitativen Methodenlehre geführt. Diesem Missverständnis zufolge emergierten zentrale Kategorien und Konzepte quasi von selbst aus dem Datenmaterial, wenn die Forschenden möglichst voraussetzungslos an ihr empirisches Untersuchungsfeld herangehen. Diese Sichtweise beschreiben Kelle und Kluge als „naiv“ und stellen ein eigenes an Charles Sanders Pierce angelehntes Modell der „Abduktion“ bzw. der „hypothetischen Schlussfolgerung“[8] vor. Dieses Modell rekonstruiere die empirisch begründete Generierung von Konzepten und theoretischen Annahmen als einen Prozess, bei dem theoretisches Vorwissen mit empirischem Betrachtungswissen sowohl kreativ als auch methodisch kontrolliert verknüpft werden könne.
Ziel der ersten Stufe sei es demnach, Kategorien zu finden bzw. Kategorien in einer solchen Weise zu dimensionalisieren, dass die Fälle, die einer Merkmalskombination zugeordnet würden, sich möglichst ähnelten und sich dabei von den anderen Typen möglichst gut abgrenzen und unterscheiden ließen; es solle folglich interne Homogenität bei gleichzeitiger externer Heterogenität vorliegen.[9]
Stufe 2: Gruppierung der Fälle und Analyse empirischer Regelmäßigkeiten
Ebenso wie die Erarbeitung der Vergleichsdimensionen könne auch die Fallauswahl deduktiv (qualitativ), induktiv oder abduktiv gestaltet werden.[10] Bei vielen quantitativen Studien würden die zu untersuchenden Fälle anhand von Zufallsziehungen festgelegt, damit eine möglichst hohe Repräsentativität vorliege. Allerdings könnten Zufallsziehungen bei einer qualitativen Studie mit wenigen Fällen schnell zu Verzerrungen führen, da bei einer kleinen Fallzahl sich die verzerrenden Effekte nicht aufhöben und gegebenenfalls nicht einmal auffielen.
Bei einer qualitativen Studie sei demnach ein zentrales Kriterium für die Auswahl der untersuchten Fälle nicht deren Repräsentativität, sondern die theoretische Relevanz des jeweils untersuchten Falls.[11] Anstelle der Zufallsauswahl müsse deswegen eine „bewusste und kriteriengesteuerte Fallauswahl“[12] eingesetzt werden. Je nach der Art des Vorwissens böten sich unterschiedliche Möglichkeiten an. Kelle und Kluge stellen folgende drei Wege für die Fallauswahl dar: Bei den ersten beiden werden zentrale Vergleichsdimensionen im Prozess der empirischen Datenerhebung entwickelt, beim dritten Weg werden die Vergleichsdimensionen bereits vor der Datenerhebung anhand theoretischen Vorwissens festgelegt.
(1.) Vor allem Autor_innen, die sich der „Chicagoer Schule“ zugehörig fühlten, entwickelten und verbreiteten eine Methode der Fallauswahl, bei der die Suche nach Gegenbeispielen[13] im Mittelpunkt stehe. Anhand von „entscheidenden Fällen“ arbeite sich die forschende Person zu einer allgemeinen Theorie vor. Theorien würden bei dieser Strategie in Auseinandersetzung mit empirischem Material fortwährend angepasst und weiterentwickelt, bis auch die gefundenen Gegenbeispiele durch die erarbeitete Theorie erklärt werden könnten. Nach der Definition eines Forschungsgegenstands werde hier eine vorläufige Hypothese zur Erklärung des Problems formuliert. Wichtig hierbei sei, dass die Hypothese einen genügend hohen Grad an Falsifizierbarkeit (also gleichzeitig einen hohen empirischen Gehalt) besäße, damit sie mit dem Datenmaterial in Konflikt geraten kann. Daran anschließend werde nach entscheidenden Fällen gesucht, bei denen die Wahrscheinlichkeit hoch sei, eine Gegenevidenz zur Ausgangshypothese zu erzeugen. Würden Gegenbeispiele entdeckt, die sich mit der Ausgangshypothese nicht in Einklang bringen ließen, müsse diese umformuliert und modifiziert werden. Die weiterentwickelte Hypothese müsse präziser als die vorhergehende und auch wieder falsifizierbar sein. Optimalerweise werde dieser Vorgang wiederholt, bis keine Gegenbeispiele mehr gefunden werden. Ziel dieser Art der empirischen Untersuchung von Hypothesen sei nicht nur ein Bestätigen oder Verwerfen, sondern deren empirisch begründete Weiterentwicklung. Die „entscheidenden Fälle“, die in die Untersuchung mit einflössen, richten sich danach, ob sie das Potential für eine Weiterentwicklung besäßen oder einen neuen Blickwinkel auf das Phänomen zuließen.
(2.) Bei der ersten vorgestellten Möglichkeit – der Suche nach Gegenbeispielen – gab es bereits zu Beginn theoretisch gut abgeleitete und empirisch gehaltvolle, erklärende Hypothesen. Treffe man auf ein noch nicht mit hinreichend Theorien beschriebenes Forschungsfeld, böte sich eine andere Methode der Fallauswahl an: die des theoretischen Samplings.[14] Bei diesem offenen und explorativen Untersuchungsdesign würden die Kriterien für die Fallauswahl sukzessive während der Datenanalyse (nach Maßgabe der bislang entwickelten Kategorien und Hypothesen) entwickelt. Datenanalyse und Datenerhebung gingen hier Hand in Hand, erfolgten gleichzeitig und beeinflussten sich gegenseitig.
Das bedeutet: Zu Beginn des Forschungsprozesses gehen die Forscher_innen mit vagen Ausgangshypothesen in das empirische Feld. Die Fälle, mit deren Untersuchung man beginne, sollten dabei nicht auf der Basis eines vorher formulierten theoretischen Rahmenkonzepts, sondern auf der Grundlage einer allgemein soziologischen Perspektive und bestimmter lokaler Konzepte des untersuchten Problemfeldes ausgewählt werden. Theoretische Kategorien, die aufgrund der ersten Fälle entwickelt würden, leiteten dann die Auswahl weiterer Fälle oder Untersuchungsgruppen an. Die Auswahlkriterien, die die theoretische Relevanz der ausgewählten Einheiten betreffen, können permanent verändert werden, da sie aus den Kategorien und Hypothesen der sich entwickelnden Theorie angeleitet werden. Beim theoretischen Sampling werden Untersuchungseinheiten hinsichtlich relevanter Unterschiede oder großer Ähnlichkeiten miteinander verglichen. Beendet werde der Prozess des theoretischen Samplings, wenn eine „theoretische Sättigung“[15] erreicht sei, also wenn keine theoretisch relevanten Ähnlichkeiten und Unterschiede mehr im Datenmaterial entdeckt werden können. Wann dies – forschungspraktisch – erreicht sei, sei schwierig objektiv begründbar.
(3.) Wenn die Forscher_innen bereits vor der Datenerhebung über Vorwissen zu relevanten strukturellen Einflussgrößen im untersuchten Handlungsfeld verfügen, könne ein drittes Samplingverfahren zum Einsatz kommen: die Konstruktion qualitativer Stichprobenpläne.[16] Dieses Verfahren werde relativ häufig in der Praxis verwendet. Bei dem auch „selektiven Sampling“[17] genannten Vorgehen werden im Gegensatz zum explorativen Verfahren beim theoretischen Sampling vor der Datenerhebung Untersuchungssituationen, Zeitpunkte, Untersuchungsorte und Personen festgelegt. Hier gehen die Forscher_innen vor der Datenerhebung davon aus, bereits fundierte Kenntnisse oder Arbeitshypothesen über relevante Einflussfaktoren im untersuchten Feld zu besitzen und suchen die Fälle nach diesen theoretischen Vorannahmen aus. Vor der Datenerhebung werden Festlegungen getroffen über relevante Merkmale für die Fallauswahl, Merkmalsausprägungen und die Größe des qualitativen Samples. Häufig spielen bei der Konstruktion von qualitativen Stichprobenplänen klassische soziologische Merkmale wie Geschlecht, Beruf, Alter, Bildungsabschluss oder Milieu eine tragende Rolle. Das Ziel ist, durch die Stichprobenpläne möglichst alle wesentlichen sozialstrukturellen Kontextbedingungen, die für das Handlungsfeld relevant sind, bei der Auswahl von Untersuchungseinheiten zu berücksichtigen.
Stufe 3: Analyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge und Typenbildung
Verstehende Erklärung sozialer Zusammenhänge dürfe nicht bei der Erfassung empirischer Regelmäßigkeiten stehen bleiben. Deswegen folge der Konstruktion eines Merkmalsraums immer die Suche nach inhaltlichen Sinnzusammenhängen zwischen den Kategorien.[18] Diese Phase der Typenbildung, bei der inhaltliche Sinnzusammenhänge zwischen Merkmalen bzw. Kategorien analysiert werden, erforderten Vergleiche und Kontrastierungen von Fällen sowohl innerhalb jeder einzelnen Gruppe als auch zwischen allen konstruierten Gruppen. Diese Vergleiche könnten dazu führen, dass Fälle umsortiert und anderen Gruppen zugeordnet würden, denen sie ähnlicher sind. Auch könnten stark abweichende Fälle zunächst aus der Gruppierung herausgenommen und separat analysiert werden. Sehr ähnliche Gruppen könnten zusammengefasst oder bei starken Unterschieden weitere ergänzt werden.[19] In der Regel werde in dieser Phase der Merkmalsraum reduziert und damit die Anzahl der Gruppen bzw. Merkmalskombinationen auf wenige Typen verringert. An dieser Stelle des Forschungsprozesses würden oft Anomalien und überraschende Befunde aufgedeckt werden, also soziale Phänomene, die sich mit den vorliegenden Theorien nicht erklären ließen. Würden bei der Analyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge – oftmals durch abduktive Schlussfolgerungen – neue relevante Merkmale identifiziert, die dazu führen, dass der Prozess der Typenbildung auf einer höheren Komplexitätsebene weitergeführt werde, müsse man den Kreislauf des Stufenmodells (siehe oben) mit den neuen Kategorien erneut durchlaufen.[20]
Stufe 4: Charakterisierung der gebildeten Typen
Der Prozess der Typenbildung schließe immer mit einer umfassenden und möglichst genauen Charakterisierung der gebildeten Typen anhand der relevanten Vergleichsdimensionen und Merkmalskombinationen sowie der relevanten konstruierten Sinnzusammenhänge.[21] Die Charakterisierung der gebildeten Typen werde häufig als eigenständiger Auswertungsschritt übersehen, obwohl er für die Beschreibung der Typen und die Zuordnung weiterer Untersuchungselemente von zentraler Bedeutung sei. Auch bei der Vergabe von Kurzbezeichnungen für die gebildeten Typen müsse besondere Sorgfalt geübt werden, weil es hier schnell zu Verkürzungen und Verzerrungen kommen könne, die der Komplexität des untersuchten Sachverhaltes nicht gerecht würde.
Da sich die Fälle eines Typus nicht in allen Merkmalen gleichen, sondern nur ähnelten, stelle sich das Problem, wie das Gemeinsame der Typen treffend charakterisiert werden könne. Kelle und Kluge stellen zwei verschiedene Vorgehensweisen vor, die ich als „Bildung von Idealtypen“ und „Orientierung am Durchschnitt“ zusammenfasse. Die Bildung von Idealtypen lehnt an Max Webers Konzept des Idealtypus an. Hierbei werde entweder aus mehreren prototypischen Fällen ein idealtypisches Konstrukt komponiert, oder es werde der Typ, der die betreffende Gruppe möglichst optimal repräsentiere beschrieben, wobei einzelne Charakteristika des Idealtyps zugespitzt würden, um das Typische besser zu verdeutlichen.[22] Die starke Zuspitzung des Idealtyps könne jedoch dazu führen, dass nicht nur die Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen, sondern auch die einzelnen Fälle des jeweiligen Typs sehr groß erscheinen. Es würden eher Unterschiede als Gemeinsamkeiten betont werden. Dieses Vorgehen sei vor allem bei der Konfrontation des Idealtyps zum Einzelfall sinnvoll, um die Eigenarten des Falls herauszuarbeiten, aber nicht, um die Gruppe von Fällen zu repräsentieren. Hierzu solle ein Fall herausgesucht und beschrieben werden, mit dem die gesamte Gruppe so zutreffend wie möglich charakterisiert werden könne. Damit könne auch dem Einwand entgegengewirkt werden, der gebildete Typus hätte zu wenig Bezug zum Gegenstandsbereich.
Typologie des Hasses 2.0
Eine Typologie ist – wie Forschungsergebnisse generell – in hohem Maße von den Forscher_innen und deren Schwerpunktsetzung abhängig. Würden einhundert Wissenschaftler_innen unabhängig voneinander Typologien zu einem Untersuchungsgegenstand entwickeln, könnten durch unterschiedliche Blickrichtungen der Betrachtung einhundert verschiedene Typologien entstehen. In diesem Abschnitt stelle ich meine und somit eine mögliche Typologie für Anfeindungen im Internet vor. Im Anschluss daran gehe ich auf die Veränderungen von Angriffen ein, die die Verbreitung digitaler Vernetzung mit sich gebracht hat.
Stufe 1: Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen
Zu Beginn der Erstellung der Typologie lag der Gedanke nah, von den drei von Kelle und Kluge vorgestellten möglichen Wegen für die Entwicklung von Vergleichsdimensionen das beschriebene Verfahren der „Konstruktion qualitativer Stichprobenpläne“ zu verwenden. Da „Geschlecht“ als Analysekategorie im Fokus der Arbeit liegt, wollte ich diese Dimension untersuchen, bezogen auf ein weiteres sozialstrukturelles Merkmal. Doch neben der Schwierigkeit der Erfassung des Geschlechts im Internet, ist diese Methode vor allem dann sinnvoll, wenn der Untersuchungsbereich schon weitgehend erforscht ist und bereits valide Hypothesen über Zusammenhänge vorliegen.
Da digitale Angriffe ein recht neues Phänomen sind und es bisher wenig wissenschaftliche Forschung in diesem Gebiet gibt, konnte ich dieses Verfahren nicht wählen. Gleiches gilt für den Ansatz nach der Chicagoer Schule, der „Suche nach Gegenbeispielen“. Für dieses Verfahren muss fundiertes Vorwissen vorhanden sein, mit dem empirisch gehaltvolle Hypothesen formuliert werden können. Ohne hohen empirischen Gehalt lassen sich Hypothesen nicht falsifizieren.
Daher wähle ich, für die Erarbeitung der Vergleichsdimensionen die Methode des „theoretischen Samplings“. Bei diesem offenen und explorativen Verfahren gehen Datenanalyse und Datenerhebung Hand in Hand. Das Hauptauswahlkriterium für die Vergleichsdimensionen ist die theoretische Relevanz des Untersuchungsfeldes. Im Falle meines Untersuchungsbereichs sehe ich die „Nähe zum Opfer“ und die „unterschiedlichen Anreizsysteme“ der Verfasser_innen von Anfeindungen als zentrale Untersuchungskategorien, die die Breite der Angriffe gut darstellen. Beide Dimensionen skaliere ich dichotom, woraus sich folgendes Schema ableiten lässt:
Es sind vier Angriffstypen dargestellt, unterschieden danach, ob das Opfer dem_r Täter_in bekannt ist und ob der Angriff aus finanziellem Interesse stattfand oder nicht-monetär bedingt ist.
Stufe 2: Gruppierung der Fälle und Analyse empirischer Regelmäßigkeiten
Kelle und Kluge schlagen zur Gruppierung der Fälle und Analyse empirischer Regelmäßigkeiten die gleichen drei Verfahrenswege wie bei der Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen vor. Durch die gleiche Sachlage bietet sich somit auch bei diesem Schritt die Fallauswahl durch „theoretisches Sampling“ an. Gegen eine Zufallsauswahl spricht, dass bei qualitativen Untersuchungen meist mit geringer Fallzahl gearbeitet wird und durch eine Zufallsziehung bei der Fallauswahl leicht Verzerrungen auftauchen können. Von daher ist es hier sinnvoll, die Fallauswahl anhand von „theoretischer Relevanz“ durch „theoretisches Sampling“ zu vollziehen. In meinem Untersuchungsfeld liegen vor allem Fälle des Typs D (unbekannt/ nicht-monetär), wie die beschriebenen Fallbeispiele zeigen, vor. Diese hier entwickelte Typologie könnte in weiteren empirischen Untersuchungen als Grundlage für eine Konstruktion eines qualitativen Stichprobenplans dienen. Die zu untersuchenden Fälle wären damit zu Beginn des Forschungsprozesses festgelegt und bestünden aus allen vier Typen.
Stufe 3 und 4: Analyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge und Charakterisierung der gebildeten Typen
Nach der Konstruktion des Merkmalsraums müssen die gebildeten Typen noch näher benannt und beschrieben werden. Bei der Charakterisierung der Typen stellen Kelle und Kluge zwei unterschiedliche Vorgehensweisen vor; die ich oben als „Bildung von Idealtypen“ und „Orientierung am Durchschnitt“ zusammengefasst habe. Um dem Einwand, die gebildeten Typen hätten zu wenig Bezug zum Gegenstandsbereich entgegenzuwirken, habe ich mich für die zweite Herangehensweise entschieden. Im Gegensatz zu der Bildung eines Idealtypus wird hier kein neuer, unter den Untersuchungsfällen gar nicht vorkommender, Typ gebildet, sondern der Fall, der die Gruppe am treffendsten zu repräsentieren scheint, ausgewählt und beschrieben.
Typ A (bekannt/monetär): Konkurrenzunternehmen
Bei dem ersten der dargestellten Anfeindungstypen im Internet ist das Opfer dem_r Täter_in bekannt und das Interesse für den Angriff ist monetär bedingt. Als Beispiel lässt sich die Situation von Konkurrenz am Markt beschreiben. Ein_e Wettbewerber_in könnte beispielsweise auf Bewertungsportalen das eigene Produkt sehr positiv rezensieren, das der Konkurrenz hingegen gleichzeitig schlecht bewerten.
Typ B (bekannt/nicht-monetär): Mobbing
Als klassisches Mobbing lässt sich der nächste Angriffstyp beschreiben. Bei den Angriffen handelt es sich um eine dem_r Täter_in bekannte Person wie beispielsweise ein_e Mitschüler_in. Ein weiteres Beispiel neben dem Mobbing in der Schule ist das beschriebene Phänomen des revenge porns bei Expartner_innen (siehe hier). Der Grund für die Anfeindungen ist nicht finanzieller Art.
Typ C (unbekannt/monetär): Putins Trolle
Seit 2014 erschienen immer wieder Berichte, über Putins Trolle. Der russische Präsident Wladimir Putin solle demnach eine eigene „Armee von Trollen“ bezahlen, die in seinem Interesse Kommentarspalten fluteten, in Diskussionen mitredeten und auf Imageboards gewünschte Inhalte und Fotos posteten. Mittlerweile dichten sich die Indizien für diese Art der Angriffe.[23] Es gebe sogar Unternehmen, die sich darauf spezialisiert hätten, Trolle zu vermitteln. Die Opfer (Oppositionelle, Politiker_innen, Institutionen oder auch Länder) müssen den Trollen nicht bekannt sein, der Anreiz für die Angriffe ist monetär oder von Seite des_r Arbeitgebers_in zumindest von vergleichbarer Dimension wie dem Streben nach politischer Macht geprägt.
Typ D (unbekannt/nicht-monetär): Trolle & Hater 2.0
Abgesehen von den Fällen des revenge porns, bei denen Opfer und Täter_in sich gekannt haben können, lassen sich alle anderen hier beschriebenen Beispielfälle in diese Kategorie einordnen. Die Opfer waren den Täter_innen nicht persönlich bekannt und die Angriffe folgten keinem finanziellen Anreiz. Fälle dieser Kategorie sind aus der Beobachter_innenperspektive besonders interessant, da auf den ersten Blick kein erkennbarer Nutzen (wie Geld) für die Trolle/Hater erkennbar ist und dadurch, dass das Opfer dem_r Täter_in nicht einmal persönlich bekannt ist, sich hier insbesondere Rückschlüsse auf tief verwurzelte Kategorien des Hasses und Mechanismen von Anfeindungen über das Internet ziehen lassen. Beispielsweise zielen Anfeindungen gegen „die Flüchtlinge“ in sozialen Netzwerken nicht auf die konkret angefeindete Person (auch wenn diese dadurch direkt be- und getroffen wird) ab. Die hintergründigen Kategorien des Hasses – in diesem Fall Rassismus – treten bei Online-Angriffen des Typs D deutlich zum Vorschein.
Veränderungen von Angriffen durch die Verbreitung des Internets
In der folgenden Grafik sind die Veränderungen der Angriffe durch die Verbreitung des Internets visuell dargestellt. Zwei der Typen von Anfeindungen im Internet, nämlich die, bei denen das Opfer dem_r Täter_in bekannt ist, hat es auch vor der Verbreitung des Web 2.0 schon gegeben. Angriffe gegen ein Konkurrenzunternehmen am Markt sowie Mobbing sind keine neuen Vorkommnisse.
Doch durch die hier ausführlich beschriebenen Hauptcharakteristika der digitalen Angriffe – die Entgrenzung und Unberechenbarkeit der Angriffe, die zur Machtlosigkeit der Opfer führen – haben sie sich in ihrer Ausprägung extrem verstärkt.
Weiter ist erkennbar, dass die beiden Typen, bei denen das Opfer dem_r Täter_in nicht bekannt ist, in dieser Ausprägung im Zuge der Verbreitung des Internets als neuartiges Phänomen erst entstanden sind.